Parentifizierung

Wenn Kinder erwachsen werden müssen

 

Parentifizierung ist ein komplexes Phänomen, das in dysfunktionalen Familien häufig vorkommt und tiefgreifende Auswirkungen auf die Entwicklung und das spätere Leben der betroffenen Kinder hat.

 

Was ist Parentifizierung?

Der Begriff Parentifizierung beschreibt eine Rollenumkehr in der Familie, bei der ein Kind Funktionen und Aufgaben übernimmt, die eigentlich den Eltern zukommen. Statt kindgerecht umsorgt und geschützt zu werden, wird das Kind frühzeitig zum „kleinen Erwachsenen“ gemacht und muss Verantwortung tragen – sei es für die emotionale Stabilität der Eltern, die Versorgung jüngerer Geschwister oder den Haushalt. Dabei wird das natürliche kindliche Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen massiv gestört.

Der Psychologe Richard G. Tedeschi prägte den Begriff in den 1970er Jahren, wobei Parentifizierung mittlerweile in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen untersucht wird.

 

Formen der Parentifizierung

Parentifizierung kann sich in unterschiedlichen Bereichen zeigen, grundsätzlich lassen sich zwei Hauptformen unterscheiden:

 

  1. Emotionale Parentifizierung

Bei der emotionalen Parentifizierung übernimmt das Kind die Rolle des „Emotionsmanagers“ der Familie. Es wird zur Stütze für einen psychisch belasteten oder instabilen Elternteil, hört dessen Sorgen, tröstet und beruhigt ihn – oft auf Kosten der eigenen emotionalen Bedürfnisse. Das Kind entwickelt eine übergroße Sensibilität für die Gefühle der Eltern und lernt, seine eigenen Gefühle zu unterdrücken.

Beispiel: Ein Kind, dessen Mutter an Depressionen leidet, wird zum täglichen Vertrauten und emotionalen Helfer, muss aber selbst mit Ängsten und Unsicherheiten alleine bleiben.

 

  1. Instrumentelle Parentifizierung

Hier übernimmt das Kind praktische und organisatorische Aufgaben, die für sein Alter überfordernd sind. Das kann die Betreuung von Geschwistern, Haushalt, Einkäufe, finanzielle Angelegenheiten oder die medizinische Versorgung eines Elternteils umfassen.

Beispiel: Ein Jugendlicher, der regelmäßig für die jüngeren Geschwister kocht, sie zur Schule bringt und zugleich Hausarbeiten erledigt, weil die Eltern nicht in der Lage sind, diese Aufgaben zu übernehmen.

 

Ursachen von Parentifizierung

Parentifizierung entsteht meist in Familien mit besonderen Belastungen, in denen die elterliche Fürsorge eingeschränkt ist. Häufige Ursachen sind:

  • Psychische Erkrankungen eines Elternteils: Depression, Angststörungen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Suchtkrankheiten
  • Chronische körperliche Erkrankungen oder Behinderungen
  • Familienkonflikte und Gewalt: Häusliche Gewalt, Scheidung, Abwesenheit eines Elternteils
  • Soziale und wirtschaftliche Belastungen: Armut, fehlende soziale Netzwerke, Überforderung der Eltern

In solchen Situationen bleibt den Eltern oft keine Kraft oder Fähigkeit, ihren Kindern altersgerechte Fürsorge und Schutz zu bieten. Das Kind muss einspringen, um das Familiengefüge zu stabilisieren.

 

Folgen der Parentifizierung

Die Übernahme erwachsener Rollen im Kindesalter hat tiefgreifende Auswirkungen auf die psychosoziale Entwicklung:

Kurzfristige Folgen

  • Überforderung und Stress
  • Angst, Schuldgefühle oder Scham
  • Einschränkung von Freizeit und kindlichem Spiel
  • Sozialer Rückzug und Isolation

Langfristige Folgen

  • Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse zu erkennen und zu äußern
  • Probleme mit Nähe und Bindung in Beziehungen
  • Übermäßiges Pflichtbewusstsein und Selbstaufopferung („Helfersyndrom“)
  • Angst vor Kontrollverlust und ein starkes Bedürfnis, Situationen zu kontrollieren
  • Erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen wie Depression, Angststörungen oder Burnout
  • Probleme bei der Abgrenzung und beim Setzen gesunder Grenzen

Ambivalenz

Interessanterweise erleben viele Betroffene die Parentifizierung als ambivalent: Einerseits fühlen sie sich gebraucht und wertvoll, andererseits fehlt ihnen die unbeschwerte Kindheit. Dieses Spannungsfeld macht die Aufarbeitung besonders schwierig.

 

Parentifizierung und erwachsene Beziehungen – Wenn alte Muster neue Verbindungen prägen

Die früh erlernten Rollen und Dynamiken aus einer parentifizierenden Kindheit verschwinden nicht automatisch mit dem Erwachsenwerden. Im Gegenteil: Sie prägen tiefgehend, oft unbewusst, wie Menschen sich in Partnerschaften verhalten, welche Rolle sie einnehmen, wie sie mit Nähe, Abhängigkeit, Konflikten und Verantwortung umgehen. Parentifizierung wirkt wie ein inneres Programm, das viele Lebensbereiche beeinflusst – insbesondere die Beziehungsfähigkeit.

 

  1. Die Rolle der „Pflegeperson“ in der Partnerschaft

Ein zentrales Kennzeichen von ehemals parentifizierten Kindern ist die Neigung, in Beziehungen die verantwortliche, sorgende oder rettende Rolle zu übernehmen. Diese Menschen fühlen sich häufig dann „sicher“, wenn sie gebraucht werden – weil das ihr kindlich erlerntes Selbstbild bestätigt: Ich bin nur wertvoll, wenn ich funktioniere und mich um andere kümmere.

In Partnerschaften äußert sich das zum Beispiel durch:

  • Übermäßiges Kümmern um die emotionalen, psychischen oder organisatorischen Bedürfnisse des Partners.
  • Tendenz, Probleme des anderen zu „übernehmen“ oder zu lösen.
  • Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse klar zu äußern oder diese als gleichwertig zu sehen.
  • Vermeidung von Konflikten, aus Angst, den Partner zu überfordern oder zu verlieren.

Diese Dynamik kann zunächst als liebevoll oder fürsorglich erscheinen, führt aber langfristig zu einem Ungleichgewicht, da der „sorgende“ Partner seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt – oft bis zur völligen Erschöpfung oder zum Verlust der eigenen Identität.

 

  1. Schwierigkeiten, Hilfe anzunehmen oder sich verletzlich zu zeigen

Parentifizierte Menschen haben häufig nie gelernt, sich fallenzulassen oder Unterstützung zuzulassen. In ihrer Kindheit war es gefährlich oder unmöglich, schwach zu sein – stattdessen mussten sie stark, kontrolliert und erwachsen agieren. Dieses Muster überträgt sich oft ins Erwachsenenleben:

  • Sie neigen dazu, alles allein regeln zu wollen.
  • Sie empfinden Abhängigkeit oder Hilfe als Schwäche.
  • Sie zeigen sich selten emotional verletzlich oder bedürftig – aus Angst, Kontrolle zu verlieren oder abgewiesen zu werden.

In einer Partnerschaft führt das oft dazu, dass Nähe zwar gewünscht wird, aber gleichzeitig schwer zugelassen werden kann. Es entsteht ein innerer Widerspruch: Ich sehne mich nach Geborgenheit, aber ich kann sie nicht wirklich zulassen.

 

  1. Loyalität zur Herkunftsfamilie – Schwierige Abgrenzung

Ein besonders tief verankerter Aspekt parentifizierter Menschen ist die ungebrochene Loyalität zur Herkunftsfamilie – selbst dann, wenn diese destruktiv, übergriffig oder emotional ausbeutend war.

Diese Loyalität äußert sich oft durch:

  • Anhaltende Sorge und Verantwortung für Eltern, auch im Erwachsenenalter.
  • Schuldgefühle, wenn man sich abgrenzt oder „nein“ sagt.
  • Unfähigkeit, die eigene Lebensgestaltung von der Familie zu entkoppeln.
  • Ein Gefühl, die Familie „retten“ oder stabilisieren zu müssen.

In Partnerschaften kann das zu erheblichen Konflikten führen, vor allem wenn der Lebenspartner Distanz zur Herkunftsfamilie sucht oder das Ausmaß der Belastung nicht nachvollziehen kann. Oft steht der Partner dann machtlos daneben, während der parentifizierte Mensch sich weiterhin „aufopfert“, selbst wenn dies der eigenen Beziehung schadet.

 

  1. Angst vor emotionaler Nähe – Schutz durch Distanz

Viele parentifizierte Erwachsene haben große Schwierigkeiten, sich emotional vollständig auf eine andere Person einzulassen. Nähe bedeutet für sie nicht automatisch Geborgenheit – sie kann bedrohlich sein. In der Kindheit war emotionale Nähe oft mit Schmerz, Ablehnung, Schuld oder Verantwortung verknüpft. Deshalb entwickeln sie als Erwachsene oft unbewusste Schutzstrategien:

  • Sie zeigen sich in Beziehungen stark, aber innerlich fühlen sie sich einsam oder leer.
  • Sie vermeiden intensive emotionale Gespräche oder halten Partner emotional „auf Abstand“.
  • Sie sabotieren Nähe durch Rückzug, ständige Beschäftigung oder Kontrolle.

Diese Schutzmechanismen können zu Missverständnissen in der Beziehung führen: Der Partner fühlt sich zurückgewiesen oder nicht wirklich verbunden, während die parentifizierte Person eigentlich tief im Innern Nähe sucht, aber Angst vor Verletzung hat.

 

  1. Ungleichgewicht in der Beziehung – Die „Retter-Abhängiger“-Dynamik

Durch die oben beschriebenen Mechanismen entwickelt sich in vielen Fällen eine ungesunde Beziehungsdynamik, in der ein Partner ständig gibt (der ehemals parentifizierte) und der andere nimmt oder sich emotional abhängig macht.

Diese Dynamik führt zu:

  • Emotionalem Ungleichgewicht: Der fürsorgende Partner trägt die Beziehung, während der andere sich zurücklehnt oder emotional weniger investiert.
  • Ressourcenermüdung: Der „retterhafte“ Partner fühlt sich irgendwann ausgelaugt, überfordert, nicht gesehen.
  • Fehlender Gegenseitigkeit: Bedürfnisse und Grenzen des fürsorgenden Partners werden nicht ausreichend wahrgenommen oder respektiert.

Das gefährliche daran: Diese Beziehungsmuster fühlen sich für die parentifizierte Person oft vertraut, fast „normal“. Sie glaubt, Liebe bedeute eben Fürsorge und Aufopferung. So wiederholt sich das kindliche Muster – diesmal aber in einer Erwachsenenbeziehung.

 

  1. Auswirkungen auf Intimität und Sexualität

Auch die sexuelle und körperliche Nähe kann von Parentifizierung beeinflusst werden:

  • Die enge Verknüpfung von Verantwortung und Liebe kann dazu führen, dass Sexualität als zusätzliche Verpflichtung erlebt wird.
  • Manche Betroffene spalten ihre Sexualität ab oder empfinden Schuldgefühle, wenn sie sich selbst genießen.
  • Andere erleben Intimität als Kontrollverlust und ziehen sich zurück.

So wird auch die körperliche Verbindung in der Partnerschaft zum schwierigen Terrain, das oft unbewusst durch Ängste und alte Verletzungen geprägt ist.

 

Wege zur Veränderung – Wie kann man gesunde Beziehungen lernen?

Die gute Nachricht: Auch wenn parentifizierte Menschen mit erheblichen inneren Konflikten und alten Mustern kämpfen, ist Veränderung möglich. Der erste und wichtigste Schritt ist die Bewusstwerdung:

  • Was ist meine Rolle in dieser Beziehung?
  • Wessen Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt?
  • Wo verliere ich mich selbst?

 

Weitere Schritte können sein:

  • Psychotherapeutische Begleitung, insbesondere mit Fokus auf inneres Kind, Trauma oder systemische Dynamiken.
  • Reflexion über die Herkunftsfamilie, um sich emotional und gedanklich zu lösen.
  • Beziehungsarbeit mit dem Partner – gemeinsam über Muster sprechen, neue Umgangsformen finden.
  • Grenztraining: Lernen, „Nein“ zu sagen, ohne Schuld.
  • Selbstfürsorge kultivieren: Sich selbst als gleichwertig erleben – mit Bedürfnissen, Schwächen, Träumen.

Parentifizierung ist eine stille, aber mächtige Kraft, die das Fundament für viele Beziehungsmuster im Erwachsenenalter legt. Sie sorgt dafür, dass Menschen lieben, indem sie sich aufopfern – und dabei oft sich selbst verlieren. Doch wenn Betroffene beginnen, ihre Geschichte zu verstehen, alte Loyalitäten zu hinterfragen und neue Wege des Miteinanders zu lernen, können sie sich von diesen Prägungen befreien. Erst dann wird echte, gesunde Nähe möglich – in die beiden Partner geben und nehmen dürfen, sich zeigen können, ohne Angst vor Ablehnung, und gemeinsam wachsen.

Wege aus der Parentifizierung – Heilung und Selbstfürsorge

Die Auflösung der Parentifizierung erfordert Zeit, Bewusstsein und oft professionelle Unterstützung. Einige wichtige Schritte sind:

  1. Anerkennung und Bewusstwerdung

Der erste Schritt ist, die eigenen Erfahrungen zu erkennen und anzunehmen, ohne sich selbst zu verurteilen. Verstehen, dass die Übernahme von Verantwortung als Kind eine Überlebensstrategie war, nicht das Ergebnis eines persönlichen Versagens.

  1. Eigene Bedürfnisse entdecken

Lernen, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Üben, sich selbst Fürsorge und Erholung zu gönnen – etwas, das im Elternhaus oft verwehrt blieb.

  1. Gesunde Grenzen setzen

Bewusst lernen, Nein zu sagen und sich abzugrenzen – auch gegenüber der Herkunftsfamilie. Das kann mit Schuldgefühlen verbunden sein und braucht Unterstützung.

  1. Professionelle Hilfe

Psychotherapie, insbesondere Traumatherapie oder systemische Therapie, kann helfen, die Dynamiken zu verstehen und gesunde Verhaltensweisen zu entwickeln.

  1. Neue Rollen finden

Im Erwachsenenleben neue, ausgewogene Rollen und Beziehungen gestalten, in denen Geben und Nehmen im Gleichgewicht stehen.

 

Parentifizierung ist ein tiefgreifendes Phänomen, das viele Betroffene ein Leben lang begleitet. Sie entsteht aus der Notwendigkeit, in einem dysfunktionalen Umfeld zu überleben, hat jedoch oft weitreichende negative Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung und zwischenmenschliche Beziehungen. Der Weg aus der Parentifizierung hin zu einem gesunden, selbstbestimmten Leben ist möglich – er beginnt mit der Bewusstwerdung, dem Setzen gesunder Grenzen und der aktiven Selbstfürsorge. Die Unterstützung durch professionelle Helfer kann diesen Prozess entscheidend erleichtern und nachhaltig verändern.

 


Parentifizierung wirkt sich nicht nur auf familiäre und partnerschaftliche Beziehungen aus, sondern hat auch tiefgreifende Auswirkungen auf das Berufsleben und den Umgang mit fremden Menschen. Die früh entwickelten Muster, für andere da zu sein, Leistung zu erbringen oder sich selbst zurückzunehmen, übertragen sich häufig auf die Arbeitswelt und das soziale Umfeld.

 

Im Berufsleben: Zwischen Überverantwortung und Selbstausbeutung

 

  1. a) Überidentifikation mit der Rolle der Leistungsbringerin/des Leistungsträgers

Viele parentifizierte Erwachsene haben in ihrer Kindheit gelernt, Anerkennung über „Funktionieren“, „Leisten“ und „Starksein“ zu bekommen. Dieses Muster setzt sich im Beruf häufig fort – mit dem inneren Glaubenssatz:

„Ich bin nur wertvoll, wenn ich etwas leiste.“

 

Typische Erscheinungsformen:

  • Überstunden, auch wenn sie nicht verlangt werden
  • Perfektionismus und übertriebene Selbstkritik
  • Schwierigkeiten, sich Pausen oder Krankheit zuzugestehen
  • Mehrarbeit ohne Gegenleistung (z. B. Kollegenaufgaben übernehmen)
  1. b) Hilfsbereitschaft als unbewusste Selbstwertstrategie

Parentifizierte Menschen neigen dazu, im Beruf zu „helfen“, selbst wenn sie nicht gefragt wurden. Dahinter steckt oft der Wunsch, gebraucht zu werden, Kontrolle zu behalten oder Zugehörigkeit zu sichern.

Folgen:

  • Grenzüberschreitungen werden toleriert („Ich mache das schon…“)
  • Burnout-Gefahr durch chronische Überforderung
  • Schwierigkeit, „Nein“ zu sagen – selbst bei unzumutbaren Anforderungen
  1. c) Probleme mit Autorität und Hierarchie

Das Verhältnis zu Autoritätspersonen im Beruf ist oft ambivalent:

  • Wer selbst früh Verantwortung übernehmen musste, empfindet Vorgesetzte oft als inkompetent oder misstraut ihnen.
  • Gleichzeitig besteht eine große Angst vor Ablehnung oder negativer Bewertung durch Autorität – was zu Anpassung und Selbstausbeutung führen kann.
  1. d) Führungsrollen: Verantwortung ja, aber ohne Machtgefühl

Parentifizierte Personen übernehmen oft Führungsaufgaben – allerdings nicht aus dem Wunsch nach Einfluss, sondern aus Pflichtgefühl. Sie tun es „weil es sonst keiner macht“ – nicht weil sie sich darin wohlfühlen. Das führt häufig zu emotionaler Erschöpfung, Selbstzweifeln und einem Mangel an echtem Führungsbewusstsein.

 

Im Umgang mit fremden Menschen: Überangepasst und emotional abgesichert

 

  1. a) Übermäßige Rücksichtnahme und Anpassung

Parentifizierte Menschen haben oft ein starkes Gespür für die Bedürfnisse anderer – allerdings auf Kosten der eigenen. In neuen oder unsicheren sozialen Situationen versuchen sie, Konflikte zu vermeiden, Harmonie herzustellen oder es allen recht zu machen.

Typisch:

  • Angst vor Ablehnung, selbst durch Fremde
  • Vermeidung von Konfrontation (auch bei Ungerechtigkeit)
  • Hoher Energieaufwand für das „richtige“ Auftreten
  1. b) Hilfsbereitschaft als Beziehungsstrategie

Um gemocht zu werden oder sich sicher zu fühlen, bieten parentifizierte Menschen oft Hilfe an – auch bei Fremden. Sie springen ein, organisieren mit, hören zu – aber oft nicht aus innerem Wunsch, sondern aus erlerntem Muster: „Nur wenn ich nützlich bin, bin ich willkommen.“

Risiko:

  • Missbrauch durch ausnutzende Personen
  • Unklare Grenzen im sozialen Miteinander
  • Gefühl innerer Leere nach sozialen Interaktionen
  1. c) Schwierigkeit, Vertrauen aufzubauen

Trotz aller Freundlichkeit bleibt emotionale Nähe zu anderen Menschen oft oberflächlich. Wer früh lernen musste, sich emotional zurückzunehmen, lässt selten echte Verletzlichkeit oder Intimität zu.

Konsequenzen:

  • Viele Bekannte, aber wenige tiefe Freundschaften
  • Rückzug bei emotionaler Überforderung
  • Misstrauen gegenüber authentischen, gefühlsbetonten Menschen

 

  1. Innere Konflikte und Langzeitfolgen

Die beruflichen und sozialen Auswirkungen von Parentifizierung führen langfristig häufig zu:

  • chronischem Stress: Das ständige „Funktionieren“ ohne echte Erholung.
  • innerer Unruhe: Das Gefühl, nie genug zu sein oder etwas Wichtiges zu übersehen.
  • Selbstentfremdung: Die eigenen Wünsche, Träume und Identität bleiben diffus.
  • Beziehungsarmut: Trotz vieler Kontakte bleibt das Gefühl von Einsamkeit bestehen.
  • psychischen Beschwerden: Angststörungen, Erschöpfung, psychosomatische Symptome.

Was würde helfen? Wege zur Veränderung

 

  1. Eigene Grenzen erkennen und ernst nehmen
    • Lernen, „Nein“ zu sagen – ohne Schuldgefühle.
    • Körperliche und emotionale Warnzeichen wahrnehmen.
  2. Selbstfürsorge trainieren
    • Nicht erst helfen, dann ruhen – sondern zuerst sich selbst wahrnehmen.
  3. Emotionale Muster reflektieren
    • Warum fällt es mir schwer, Hilfe anzunehmen?
    • Was glaube ich, was passieren würde, wenn ich nicht funktioniere?
  4. In Beziehungen auf Gegenseitigkeit achten
    • Echte Freundschaften statt Abhängigkeiten fördern.
    • Auch mal schwach sein dürfen – ohne sich wertlos zu fühlen.

Parentifizierung ist ein Überlebensmechanismus, der in der Kindheit sinnvoll war – im Erwachsenenleben jedoch oft zur Belastung wird. Die tief eingeprägten Muster von Fürsorge, Überverantwortung und Selbstverleugnung prägen nicht nur Partnerschaften, sondern auch das berufliche Selbstverständnis und den Umgang mit der Welt. Erst durch bewusste Auseinandersetzung, klare Abgrenzung und gelebte Selbstfürsorge kann ein neues inneres Gleichgewicht entstehen – eines, das auf Gegenseitigkeit, Respekt und innerer Freiheit basiert.

 

Es ist auch möglich, dass Parentifizierung die Fähigkeit erschwert, echte, tragfähige Freundschaften zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. Die Prägung aus der Kindheit – früh Verantwortung zu übernehmen, emotional für andere da zu sein und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen – wirkt sich nicht nur auf romantische Beziehungen aus, sondern auch stark auf freundschaftliche Beziehungen.

Warum Freundschaften schwierig werden

 

  1. Überverantwortung: „Ich muss für andere da sein“

Parentifizierte Menschen haben oft früh gelernt: „Ich bin nur dann wertvoll, wenn ich funktioniere, helfe oder die Kontrolle behalte.“

In Freundschaften führt das zu einem Muster wie:

  • Ständige Verfügbarkeit, auch wenn es zu viel wird
  • Übernahme der „Therapeutenrolle“ in Gesprächen
  • Schwierigkeiten, sich auch mal nehmen statt geben zu lassen

Dadurch entstehen einseitige Freundschaften, in denen sie sich irgendwann ausgenutzt, leer oder einsam fühlen – ohne zu wissen, warum.

 

  1. Verlustangst & Loyalitätskonflikte

Parentifizierte Erwachsene neigen dazu, Loyalität und emotionale Nähe mit Leistung zu verknüpfen. Sie fürchten oft, dass sie verlassen oder abgelehnt werden, wenn sie ihre wahren Gefühle zeigen oder „zu viel“ sind.

Typische Folgen:

  • Sie passen sich übermäßig an, um zu gefallen
  • Sie vermeiden Konflikte – auch wenn sie verletzt wurden
  • Sie verlassen sich selbst, um anderen zu gefallen

Das kann dazu führen, dass Freundschaften nicht echt oder authentisch sind – sondern auf Rollen und Erwartungen beruhen.

 

  1. Schwierigkeiten mit emotionaler Intimität

Nähe wurde in der Kindheit oft mit Verantwortung, Stress oder sogar emotionalem Schmerz verbunden. Daraus kann sich ein ambivalentes Näheverhalten entwickeln:

  • Man ist freundlich und offen – aber emotional nicht wirklich zugänglich
  • Tiefe Gespräche oder Verletzlichkeit wirken bedrohlich
  • Vertrauen braucht extrem lange – oder wird gar nicht erst aufgebaut

Viele parentifizierte Menschen haben viele Kontakte, aber keine echten Vertrauten.

 

  1. Sich selbst nicht als Freund/in erleben

Wer immer für andere zuständig war, hat oft nie gelernt, sich selbst als gleichwertige, liebenswerte Person wahrzunehmen, die ohne Leistung geschätzt wird.

Typische Glaubenssätze:

  • „Warum sollte jemand mit MIR befreundet sein?“
  • „Ich habe nichts Interessantes zu geben, außer Hilfe.“
  • „Ich bin zu viel / zu kompliziert / zu belastet.“

Diese Glaubenssätze sabotieren viele aufkeimende Freundschaften – oft bevor sie überhaupt entstehen.

 

Was langfristig passiert:

  • Rückzug: Man zieht sich zurück, weil Beziehungen anstrengend sind.
  • Oberflächlichkeit: Man bleibt auf einer sicheren, aber distanzierten Ebene.
  • Kompensation durch Leistung: Arbeit, Pflichten oder soziale Rollen werden „Ersatz“ für echte Verbindung.
  • Einsamkeit trotz Umfeld: Man hat Menschen um sich – aber fühlt sich nicht wirklich gesehen oder verstanden.

Was helfen kann: Wege zu echter Verbindung

 

  1. Selbstbeobachtung: In welcher Rolle befinde ich mich in meinen Freundschaften? Gebe ich mehr, als ich nehme?
  2. Erlaubnis zur Unvollkommenheit: Freundschaft bedeutet nicht, immer stark zu sein. Du darfst verletzlich, bedürftig oder sogar unangenehm sein – gute Freunde bleiben trotzdem.
  3. Grenzen setzen: Auch in Freundschaften ist es okay, mal Nein zu sagen, sich zurückzuziehen oder Raum zu brauchen.
  4. Mut zur Tiefe: Wahre Freundschaft beginnt oft da, wo man sich traut, ehrlich und echt zu sein – auch wenn es Angst macht.
  5. Eigene Bedürfnisse kennenlernen: Was tut dir in Freundschaften gut? Was brauchst du – unabhängig davon, was du gibst?

 

Parentifizierung kann tief in das Beziehungsverhalten eingreifen – auch in Freundschaften. Sie führt zu übermäßiger Verantwortung, emotionaler Distanz und einem geringen Selbstwert im sozialen Miteinander. Doch diese Muster sind nicht unveränderlich. Mit Achtsamkeit, Unterstützung (z. B. durch Therapie) und kleinen mutigen Schritten können auch Menschen mit parentifizierter Prägung lernen, echte Freundschaften zu knüpfen, zu halten – und sich darin wirklich gesehen und getragen zu fühlen.