Die charmante Falle
Wenn Chefs durch Freundlichkeit manipulieren – und warum das gefährlich sein kann
In der heutigen Arbeitswelt trifft man immer seltener auf cholerische, autoritäre Vorgesetzte mit strenger Miene und harter Hand. Stattdessen begegnen uns immer öfter Führungskräfte, die durch Witz, Freundlichkeit und Charme für ein angenehmes Arbeitsklima sorgen – zumindest vordergründig. Sie machen sich beliebt, geben sich kollegial und holen ihre MitarbeiterInnen emotional ab.
Doch hinter diesem sympathischen Führungsstil verbirgt sich nicht selten ein strategisch kalkulierter Mechanismus: Emotionale Bindung wird genutzt, um Leistungsbereitschaft zu maximieren, ohne dass damit automatisch echte Wertschätzung einhergeht – etwa in Form von besserer Bezahlung, Entwicklungsmöglichkeiten oder gerechter Behandlung.
Charme, Humor und Anerkennung – als Führungsinstrument
Diese Chef-Typen haben gelernt, dass ein gutes Betriebsklima, Lächeln auf den Fluren und ein lockerer Tonfall die Leistungsbereitschaft vieler MitarbeiterInnen steigern können – ohne Druck, ohne Kontrolle, ohne Drohungen. Stattdessen setzen sie auf emotionale Führung:
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Sie loben häufig und ausführlich – besonders in Teamrunden.
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Sie geben sich nahbar, interessieren sich scheinbar für das Privatleben der Mitarbeitenden.
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Sie verbreiten Optimismus, auch in stressigen Phasen.
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Sie vermeiden Konflikte – zumindest offen – und verpacken Kritik oft in Humor.
Dieses Verhalten wirkt auf viele wohltuend. Es vermittelt Sicherheit, Zugehörigkeit und das Gefühl, gesehen zu werden. Doch diese emotionale Nähe ist nicht immer Ausdruck echter Fürsorge. Sie ist häufig Teil eines funktionalen, manipulativen Systems.
Die „Auserwählten“ – warum bestimmte MitarbeiterInnen besonders umsorgt werden
Innerhalb dieses Systems gibt es Mitarbeitende, die besonders stark im Fokus stehen: die Leistungsstarken. Menschen, die bereit sind, Überstunden zu machen, Verantwortung zu übernehmen, kreative Lösungen zu liefern – oder die über seltene Fachkenntnisse verfügen. Diese MitarbeiterInnen werden besonders eng angebunden, emotional umworben, mit Lob und scheinbarer Anerkennung überschüttet.
Doch genau hier liegt die Falle: Diese Nähe dient nicht dem Schutz der Mitarbeitenden, sondern ihrer Erhaltung. Wer besonders viel leistet, wird besonders bei Laune gehalten – nicht unbedingt, weil man ihm oder ihr etwas Gutes tun will, sondern weil man auf diese Leistung nicht verzichten möchte.
Beispiel – "Der Sonnenschein mit dem Nein im Ärmel"
Anna, eine Marketingexpertin in einem mittelständischen Unternehmen, wird regelmäßig von ihrem Chef gelobt: „Ohne dich würde der Laden hier gar nicht laufen!“ – „Du hast wirklich ein Talent für die Kundenansprache!“ – „Ich weiß gar nicht, wie du das immer alles schaffst!“
Anna arbeitet oft länger als andere, übernimmt spontane Aufgaben, wenn Kollegen krank sind, und springt auch bei Events abends oder am Wochenende ein. Ihr Chef betont regelmäßig, wie wertvoll sie sei – bei jeder Gelegenheit, vor dem gesamten Team.
Nach drei Jahren ohne Gehaltserhöhung spricht Anna ihn direkt an. Ihre Argumentation ist sachlich, nachvollziehbar: steigende Lebenshaltungskosten, ihr wachsendes Aufgabenfeld, branchenübliche Gehälter. Doch der Chef wiegelt ab: „Anna, du weißt, wie sehr ich dich schätze, aber beim Vorstand geht da aktuell einfach nichts. Glaub mir, ich hab’s versucht. Wir müssen da noch ein paar Monate abwarten.“
Anna ist enttäuscht. Doch am nächsten Tag lobt der Chef sie erneut vor dem ganzen Team: „Anna hat gestern mal wieder gezaubert – große Klasse!“ Sie fühlt sich geschätzt – und verschiebt ihre Forderung. Monate später ist nichts passiert.
👉 Analyse: Die Anerkennung ist echt – aber nicht handlungswirksam. Der Chef hält Anna emotional bei der Stange, ohne konkrete Verbesserungen zu ermöglichen. Er nutzt ihre Leistungsbereitschaft, ohne ihr etwas zurückzugeben – außer Worten.
Warum diese Art der Führung so gefährlich ist
Auf den ersten Blick wirkt dieses Führungsverhalten modern, menschlich, angenehm. Viele MitarbeiterInnen fühlen sich wohler in einem freundlichen Umfeld mit nahbaren Vorgesetzten. Doch der Schaden entsteht schleichend:
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Emotion ersetzt Struktur: Lob ersetzt gerechte Prozesse – z. B. bei Beförderungen oder Gehaltsanpassungen.
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Abhängigkeit statt Autonomie: Die emotionale Nähe wird zur Bindung, nicht zur Befähigung.
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Anerkennung ohne Verantwortung: Vorgesetzte übernehmen keine Konsequenz für ihre Wertschätzung – sie bleibt verbal, ohne materielle Folgen.
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Frustration trotz guter Stimmung: MitarbeiterInnen merken irgendwann, dass sie in einer freundlichen Sackgasse gelandet sind – geschätzt, aber nicht gefördert.
Was betroffene MitarbeiterInnen tun können
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Emotion von Struktur trennen
Lob ist schön – aber keine Währung. Prüfen Sie: Was hat sich konkret durch die Anerkennung verändert? -
Grenzen setzen und dokumentieren
Wer dauerhaft mehr leistet, sollte das schriftlich festhalten – und auch mal „Nein“ sagen, um die eigene Belastung zu steuern. -
Gehaltsverhandlungen sachlich führen
Nicht auf emotionale Aussagen („Du bist so wichtig!“) eingehen, sondern auf messbare Leistungen und Marktvergleiche pochen. -
Unterstützung suchen
HR-Abteilungen, Betriebsräte oder externe Karriereberater können helfen, Situationen realistisch einzuschätzen und Perspektiven zu entwickeln. -
Wechsel prüfen
Wenn langfristig keine Veränderung eintritt, kann ein Arbeitsplatzwechsel die einzige Möglichkeit sein, echte Wertschätzung zu erhalten – nicht nur in Worten, sondern auch in Taten.
Freundlichkeit ist kein Ersatz für Verantwortung – und Selbstwert kein Spielball von Lob
Führungskräfte, die sich hinter Charme und Humor verstecken, mögen auf den ersten Blick angenehm und unterstützend wirken. Doch wenn sich hinter dieser Fassade keine echten, tragfähigen Strukturen der Anerkennung, Förderung und gerechten Entlohnung verbergen, entsteht ein ungesundes Arbeitsumfeld – eins, das sich freundlich anfühlt, aber systematisch ausnutzt.
Gerade in solchen Situationen ist es entscheidend, dass MitarbeiterInnen sich nicht ausschließlich über die Anerkennung ihrer Chefin oder ihres Chefs definieren. Denn das Lob solcher Vorgesetzten ist oft taktisch, nicht substanziell. Es wird eingesetzt, um Motivation und Bindung zu erhalten – nicht zwangsläufig, um Entwicklung oder Gerechtigkeit zu fördern.
Daher gilt:
👉 Der Glaube an sich selbst, an die eigenen Fähigkeiten und an den eigenen Wert ist zentral.
Wer sich nur dann wertvoll fühlt, wenn die Chefin oder der Chef lobt, begibt sich in eine Abhängigkeit – eine emotionale Abhängigkeit, die ausgenutzt werden kann. Sich seines eigenen Beitrags bewusst zu sein – unabhängig davon, ob jemand „Danke“ sagt oder nicht – ist der erste Schritt, um sich aus solchen Strukturen zu lösen.
Was hilft konkret?
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Reflexion über den eigenen Wert: Was leiste ich wirklich? Welche Kompetenzen bringe ich mit? Was ist mein Marktwert?
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Selbstbewusstsein stärken: Wer seine Leistung kennt und anerkennt, lässt sich nicht mit leeren Worten abspeisen.
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Grenzen ziehen: Freundliche Führung darf nicht als Vorwand genutzt werden, dauerhaft über die eigenen Kräfte hinaus zu arbeiten.
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Sich nicht einschüchtern lassen: Nur weil jemand witzig und charmant ist, heißt das nicht, dass er oder sie automatisch recht hat.
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Selbstfürsorge kultivieren: Auch in einem lockeren Arbeitsumfeld darf man sich regelmäßig fragen: Wie geht es mir dabei wirklich?
Letzten Endes geht es darum, sich selbst zum Maßstab für Anerkennung und Gerechtigkeit zu machen. Lob ist angenehm – aber nicht existenziell. Was zählt, ist die innere Überzeugung: „Ich bin gut in dem, was ich tue – und ich verdiene mehr als nur Worte.“
Wer mit dieser Haltung in Gespräche mit Vorgesetzten geht, wird nicht nur anders auftreten – sondern langfristig auch klarer erkennen, ob die Führungskraft es wirklich gut meint. Denn echte Chefs fördern nicht nur Leistung – sie fördern Menschen.